Zu Luigi Nonos 100. Geburtstag
„…sie können doch nicht den Wald niederbrennen, denn er ist jung und voller Leben…“
(Gabriel, Kämpfer aus Angola, 1965)
„A floresta é jovem e cheja de vida“ von 1966 des vierzigjährigen Nono nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Avantgarde ein. In der Atmosphäre einer Zeit, als Umberto Ecos Konzept vom „offenen Kunstwerk“ nicht nur das Werk, sondern schließlich Roland Barthes‘ „Tod es Autors“ auch die solitäre Urheberschaft in Frage stellte, spiegelte sich darin der Fortschritt im Sinn der kommunistischen Vorstellung vom Kollektiv und von vereinigten Arbeiterschaften aller Länder. Diese internationale Solidarität wollte Luigi Nono den Opfern von “imperialistischer” Gewaltherrschaft angedeihen lassen. Es mischten sich daher die konzeptuellen Ideen der intellektuellen Avantgarde mit persönlichen Dokumenten aus verschiedensten Ländern und in deren Sprachen zu einer polyglotten Anklage gegen Imperialismus und Kapitalismus.
In diesen Texten blitzt aber fragmenthaft noch ein anderes Thema auf, das aber von Nono nicht in den Vordergrund gehoben wurde. Ich meine die Natur.Schon der Titel spielt darauf an: der Wald – A floresta, im Portugiesischen. Haben wir uns doch angewöhnt, viele Dinge nur als Metaphern zu verstehen und die engere Bedeutung zu übergehen. Wenn das sprichwörtliche „Vor Bäumen den Wald nicht sehen“ dieses ausdrückt, so in doppeltem Sinn, denn der portugiesische Titel des Werkes meint eben übersetzt „Der Wald ist jung von voller Leben“, dient aber vorranging als Metapher für die Widerstandskämpfer, die jung und voller Leben sich idealistisch einem schwer greifbaren und schwer angreifbaren Urwald aufhalten. Erst durch den Einsatz des katastrophalen Entlaubungsmittels „Agent Orange“ durch das U.S. Militär im Vietnamkrieg ab 1961 wurde die Weltöffentlichkeit schlagartig von solchen Metaphern auf die konkrete Realität von Naturzerstörung wieder aufmerksam. Naturlandschaften mit ihren Biotopen erleiden in allen kriegerischen Konflikten große Zerstörungen, was bisher nur wenig Berücksichtigung in den Geschichtserzählungen fand. In solcher Urlandschaft von Bolivien starb schließlich auch die kommunistische Ikone Che Guevara. In den Texten des Werks, die Giovanni Pirelli für Luigi Nono zusammenstellte, erscheint alles auf Naturlandschaft Beziehbare als eine Art Bühnenbild für die eigentliche Handlung, eben eines kommunistischen Widerstands. Territorien werden mit Naturbezeichnungen markiert, für eine spätere Inbesitznahme. Die Pflanzen und Tiere bleiben „mitgemeint“, beziehungsweise sind Felder und Berge nur Rohstofflieferanten.
„…weil nun auf den Feldern und den Bergen Amerikas, auf den Hängen der Sierra und in den Prärien und Wäldern in der Einsamkeit oder im Stadtleben an der Küste zum großen Ozean, und an den Flüssen …“
„Die zweite Erklärung von Havanna“, 1962
In der Biographie Nonos können wir Wandlungen des Interesses beobachten. Die Anliegen politischer Art wandelten sich spätestens zu Beginn der 1980er Jahre zu einer Introspektion abseits von kommunistischen Idealen. Es mag die bittere Erkenntnis über die Realität der Unmöglichkeit einer kommunistischen Welt gewesen sein, die Nono gewissermaßen zu sich selbst und der Welt des Klanges zurückbrachte. Es bleibt Spekulation, ob die allgemeine Ausbeutung der Natur durch die Industrialisierung, die sich letztlich in den sowjetischen Ländern als besonders rücksichtslos zeigte und unermessliche Schäden hinterlassen hat, ein wesentlicher Aspekt der Erkenntnis gewesen sein mag, sich von der politischen Ideologie abzuwenden.
Philosophische und universelle Erkenntnisse markieren letztlich eine Hinwendung zum Individuum. Nachdem das Kollektiv für Nono über viele Jahre hin eine zentrale Rolle gespielt hatte, wandte er sich in seinen späten Jahren dem Hören zu, der Magie des Klanges im Raum, in der Welt und im Denken. Eine zentrale Rolle mag dabei gespielt haben, dass Nono in Venedig lebte. Die Geräusche und Klänge Venedigs sind spatial. Die Wasserflächen erlauben andere Hörerfahrungen, zumal Venedig ohne Autoverkehr vermutlich auch aufgrund seiner Stille zu den geheimnisvollsten Städten der Welt gehört. Nicht zuletzt im Dom von San Marco hat die Mehrchörigkeit historische Bedeutung erlangt. Überall ist das Hören und die Orientierung im Raum durch das Ohr besonders auffallend. Letztlich also ist es die Topographie, das Meer, also wiederum die „Natur“, die hier bestimmtend wirkt.
Diese Raumerfahrung hat Luigi Nono in seiner Anordnung der Mitwirkenden von “A Floresta…” umgesetzt. Orientiert am griechischen Theater, wird dabei der Chor zu einer Gruppe von Lautsprechern. In der nun zu hörenden Binauralfassung, verschwinden diese auch visuell Wahrnehmbaren Dispositionen zugunsten der Bewegung des Hörenden im Raum. Auch hier ist die Aufmerksamkeit auf ein Anderes Element gelenkt, – dass die bereits im Original angelegten Lautsprecher und elektronischen Elemente, die Aufnahmen von Stimmen, mit einem Wort, eine erste “Virtualisierung” von menschlicher Stimme, zu einer gänzlichen Virtualisierung geführt hat, die aber für uns Heutige nichts Fremdes mehr an sich hat.
In der Biaural-Fassung durch Veniero Rizzardi und Alvise Vidolin wird nun eine akustische Version geboten, die es ermöglicht, das Werk „in den Hintergrund“ hineinzutragen. Die Natur wird zum begehbaren Zentrum des Interesses. Sie soll ihr Metapher-Dasein abstreifen und den Menschen zum Hintergrund machen. Es spielt dabei keine Rolle, ob nun Nono die Natur bewusst oder unbewusst als Hintergund und Rahmung für die Weltrevolution oder für die Wunderwelt des Hörens mitspielen ließ. Entscheidend ist, ihr diese neue Aufmerksamkeit zu schenken und das Werk aus anderer Perspektive als zuvor wahrnehmen zu können – ohne es nämlich zu verändern.
Als Nono am 8.Mai 1990 starb, auf den Tage genau an dem fünfundvierzig Jahre zuvor der Zweite Weltkrieg zuende gegangen war, begann in der westlichen Gesellschaft verstärkt ein sorgenvolles Bewusstsein über den ökologischen Zustand der Erde und dessen Zukunft einzusetzen.
In den politischen Auseinandersetzungen war bis dahin das Thema „Natur“ als ein Gefährdetes Hintergrund geblieben, geradwegs so, als sei Natur selbstverständlich, und in gewisser Weise sollte die Natur für uns tatsächlich selbstverständlich sein: als eine, unser Leben bestimmende Grundlage: der Planet Erde.
„lass mich meine Erde nochmals sehen“
„L’histoire de Nguyen Van Troi“, Vietnam 1965
Erde, auch dies im Deutschen mit einer merkwürdigen Doppelbedeutung, die sowohl den Planeten, als auch die Grundlage für Pflanzen meint, zeugt von der Fruchtbarkeit des Territoriums und seiner Natur.
Freilich: Das Wort „Natur“ sagt sich so einfach hin. In der Annahme, alle wüssten ohnehin, was damit gemeint ist, steht man bei genauerer Betrachtung vor der schwer zu beantwortenden Frage: Was „Natur“ eigentlich in einem konkret darstellbaren Sinn sei? Worin drückt sich das, was wir eben gemeinhin als „Natur“ bezeichnen aus?Wir erkennen rasch, dass dieser Begriff ein abstrakter ist, der ebenso vieles meint. Am ehesten zusammenfassen lässt er sich mittlerweile durch das „Bedroht-Sein“. Bedroht ist daran unsere menschliche Existenz schlechthin. Damit ist auch ein Verschwinden von unseren Artgenossen, also anderen Organismen gemeint. Was tun wir Menschen dagegen? Wir stecken die Pflanzen in ein Pflanzen-Haus, um es – einem Museum ähnlich – schon zu Lebzeiten sichtbar und wahrnehmbar zu machen in seiner Besonderheit, wenn auch, wie die exotischen Tiere im Zoo, völlig entwurzelt und gewissermaßen „entfremdet“, um jenen marx’schen Begriff hier in erweitertem Sinn zu verwenden, außerhalb der natürlichen Lebensräume. Und um zu konservieren. Zu dokumentieren, wes wir verlustig zu gehen im Begriff sind. Der natürliche Lebensraum scheint mithin ebenfalls zum Problem geworden zu sein, wo es sich doch lediglich um ein bestimmtes geographisches Territorium handelt… Bekanntlich wird man sich mancher Dinge erst bewusst, wenn sie einem abhanden gekommen sind. Mit der Natur scheint genau das der Fall zu sein. Aus der Entdeckung der Vielfalt der Arten und deren Dokumentation für wissenschaftliche und didaktische Zwecke wurde unmerklich ein Archiv zur Konservierung von bedrohten oder gar schon verschwundenen Spezies. Das aber, was zum Verlust der genannten Lebensräume geführt hat, genau das ist es, was als Feind der Natur bezeichnet werden kann. Natur ist daher heute ex negativo das, was einen existenzbedrohenden Feind hat.
Weckt denn diese Bedeutung des Wortes „Natur“ heute nicht unser empathisches Mitleid im Gegensatz zu vorangegangenen Jahrtausenden, in denen die Natur umgekehrtermaßen der existenzbedrohende Feind des Menschen gewesen war? Verschmelzen nun nicht doch die von Luigi Nono herausgehobenen menschlichen Opfer von Gewaltherrschaften menschlicher Gesellschaften mit den nicht-menschlichen Opfern der gewalttätigen Handlungen aktueller menschlicher Gesellschaften in den Biotopen? Ob nun ein Gewächshaus mit tropischen Pflanzen oder der authentische Urwald: Der Aufführungsort wird zur universellen Metapher für einen „natürlichen Lebensraum“, für Biotope. Wenn es nun heißt, dass der Wald jung sei, und voller Leben, dann ist das hier und heute keine Metapher mehr, sondern bezieht sich auf wiederkehrende Wachstumsperioden, Blütezeit, Fruchtreife. Es können generell keine Metaphern mehr aus Natur gebildet werden, denn sie muss uns einzigartig und unvergleichlich sein.
In den Naturwissenschaften ist das englische Wort “nature” darüber hinaus zu einem Sammelbegriff für physikalische Gesetze geworden. Oft begegnet uns in den wissenschaftlichen Diskursen die Opposition von englisch „we“ (Freiheit des Handelns des Menschen) versus „Nature“ (Unveränderliche, empirisch bewiesene Gesetze der Physik). Merwürdig also, dass hier die Menschheit als eine Entität erscheint, die einer im Letzten auch heute noch unerklärbaren Gesetzmäßigkeit quasi “außerhalb seiner selbt” auf der Spur ist.
Die eingangs erwähnte Sonderstellung von Luigi Nonos Werk „A floresta..:“ liegt darin, intellektuelle Konzepte der 1960er Jahre, wie etwa der Auflösung von Werk, Autor oder Formensprache, ernst genommen zu haben. Dabei aber wurde Nono bewusst, dass das Resultat dieser Arbeit in Konsequenz nicht so einfach in einen Werkkatalog, noch weniger in einen Verkaufskatalog aufzunehmen sein würde. Nono betreute die Aufführungen dieser Konzeption über mehrere Jahre. Die Bindung an konkrete individuelle Künstler, Sänger und Sängerinnen, die involvierte Theatergruppe Living Theatre aus New York und weitere machten das Werk kaum für andere aufführbar. Eine solche Aufführung unter Verwendung der, – unter anderem von Veniero Rizzardi – rekonstruierten Partitur, müsste sich mit der Abwesenheit des spontan „komponierenden“ Luigi Nono konfrontiert sehen.
Auch aus diesem Umstand heraus gibt es für mich kaum ein anderes Werk, das die *Abwesenheit* Luigi Nonos als Person stärker zum Ausdruck bringen würde, als „A Floresta …“.